Seit wenigen Wochen boomt das Geschäft mit medizinischem Cannabis. Patientenvertreter warnen bereits vor Engpässen. Schuld sollen vor allem Freizeitkiffer sein.
Vor zehn Jahren hat Daniela Joachim einen Tumor überlebt. Noch heute leidet sie unter den Folgeschäden – Schmerzen im Kiefer und psychische Probleme. Gegen die Folgeschäden half ihr bislang ein medizinisches Cannabis-Präparat mit einem hohen Anteil von Tetrahydrocannabinol (THC), das unter anderem für die psychoaktive Wirkung verantwortlich ist. Für Joachim, die in der Cannabismedizin-Branche arbeitet und ehrenamtlich den Bund Deutscher Cannabis-Patienten führt, ist das praktisch. Denn aufgrund ihrer Kieferprobleme erleichtert es ihr die Einnahme, wenn sie möglichst wenig Blütenmaterial in den Verdampfer füllen muss, um den Zugwiderstand gering zu halten. Je mehr THC also in der Blüte enthalten ist, umso besser für Joachim. 30 Gramm ihrer Sorte benötigt sie pro Monat. Aktuell ist ihre bevorzugte Menge allerdings nicht mehr verfügbar. Joachims Apotheke musste bereits bei der letzten Rezeptbelieferung auf Fünf-Gramm-Dosen, statt 15-Gramm-Einheiten, ausweichen.
Medizinisches Cannabis ist seit 2017 erlaubt und soll Patientinnen wie Joachim etwa gegen starke Schmerzen helfen. Nun scheint die Beschaffung schwieriger zu werden. Der Grund: Zum 1. April beschloss die Ampelkoalition eine Teil-Legalisierung, die sich nicht an Patienten, sondern an Freizeitkiffer wendet. Das Gesetz aus dem Hause Lauterbach löste allerdings einen Boom bei medizinischem Cannabis aus – und mutmaßlich Engpässe. Die Nachfrage legte im Vergleich zu den Vormonaten um 100 Prozent und mehr zu. Für Michel Kambeck, den politischen Sprecher des Bundesverbandes Deutscher Cannabis-Patienten, ist klar: „Die hohen Zuwächse sind nicht erklärbar, ohne dass da medizinisches Cannabis in den Freizeitmarkt geht.“
Cannabis – „einfach und schnell“
Es gibt in Deutschland derzeit keinen anderen Weg, legal an die Droge zu kommen, als Cannabis zu medizinischen Zwecken zu beziehen. Die im Gesetz beschlossenen Cannabis-Clubs, über die interessierte Kiffer ihren Stoff beziehen können, starten erst später im Jahr. Und die Eigenanbau-Pflänzchen, die Gesundheitsminister Karl Lauterbach ebenfalls legalisiert hat, müssen auch erst noch wachsen. „Da wurde eine starke Nachfrage geschaffen, aber der Bedarf kann derzeit nur durch medizinischen Cannabis gesättigt werden“, ärgert sich Kambeck. Die erhöhte Nachfrage führe zu Engpässen, wie Kambeck berichtet: „Uns erreichen immer mehr Rückmeldungen von chronischen Patienten, welche die Sorte nicht mehr erhalten können, auf die ihr Arzt sie mühsam eingestellt hat.“
Laut Schätzungen sind aktuell von den am Markt befindlichen Medizinal-Cannabis-Produkten mit entsprechendem THC-Gehalt, wie sie etwa Daniela Joachim benötigt, nur noch 50 Prozent lieferbar. Das Selbsthilfenetzwerk Cannabismedizin, eine weitere Patienten-Organisation, schreibt dagegen auf LinkedIn, von „keinen gravierenden“ Lieferengpässen erfahren zu haben.
1000 Prozent Plus
Klar ist, dass Unternehmen, die Cannabis auf Rezept liefern, nun die Nachfrage anheizen. Gleich am 1. April legte etwa Algea Care los. Wer sich zuvor dort für eine Cannabis-Behandlung interessiert hatte, fand eine Mail im elektronischen Postfach: „Cannabis Rezept jetzt für dich möglich“, warb die Firma Plattform. Und zwar „einfach, schnell & komplett digital“. Dabei können Schlafstörungen und Kopfschmerzen „schon ausreichen“, um ein Rezept zu erhalten – „Lieferung innerhalb von 48 Stunden“. Wer sich darauf einließ, landete auf einer Telemedizin-Plattform. Dort entscheiden dann Ärztin oder Arzt über das Cannabis-Rezept. Offensichtlich sahen diese in vielen Fällen eine Verschreibung als medizinisch gerechtfertigt an. Nach Angaben von Algea Care stieg die Zahl der Patienten im April 2024 um 1000 Prozent, die der eingelösten Rezepte um 500 Prozent – jeweils verglichen mit dem Durchschnittswert der vergangenen zwölf Monate.
„Natürlich müssen wir Aufmerksamkeit schaffen – auch durch eine Marketingaktion, die auffällt“, sagt Julian Wichmann, Radiologe und Geschäftsführer von Algea Care, das inzwischen in der Cannabis-Gruppe Bloomwell aufgegangen ist. Der Vorwurf, mit Schein-Indikationen zu locken, ficht Wichmann nicht an: „Schlafstörungen und Kopfschmerzen sind ernsthafte chronische Krankheiten. Allein in Deutschland leiden sechs Millionen Menschen unter Schlafstörungen.“ Es gehe darum, mal einen Therapieversuch zu wagen: Viele Patienten können nun herausfinden, ob eine Behandlung durch Cannabis für sie infrage kommt.“
Booster für die Börsen-Pläne
Offensichtlich wollen das viele. Auf einschlägigen Portalen tauschen sich Nutzer darüber aus, durch welche angeblichen Krankheiten man am besten an Cannabis komme. Die meisten nehmen dabei auch in Kauf, das Cannabis selbst zahlen zu müssen. Denn die Kassen springen lediglich bei schwerwiegenden Erkrankungen ein.
Angesichts von so viel Kundeninteresse ist es kein Wunder, dass die Pläne der Unternehmen geradezu euphorisch klingen. Bloomwell, die Muttergesellschaft von Algea Care, kündigte bereits „Deutschlands größte digitale Cannabis-Plattform“ an. Und David Henn, Chef des Cannabisanbieters Cannamedical, will sein Unternehmen in den nächsten Jahren zu einem „europäischen Champion“ machen: „Wir streben einen Börsengang für das Jahr 2025 an.“ Henn setzt dabei darauf, dass die Ärzte zunehmend Cannabis verschreiben: „Aufgrund der Restriktionen des Betäubungsmittelgesetzes dürfte bislang nur die Hälfte der über 400.000 Ärztinnen und Ärzte Cannabis-Rezepte ausstellen. Inzwischen kann das faktisch jeder Arzt in der EU mit Registrierung in Deutschland machen. Zudem fallen umfassende Dokumentationspflichten und Haftungsrisiken weg.“
Was fehlt, sind Studien
Ärzteverbände warnen allerdings regelmäßig vor gesundheitlichen Schäden. Und auch viele Praxisärztinnen und -ärzte sind skeptisch. Ihnen fehlen oft große, aussagefähige Studien, um die Wirkung von Cannabis, etwa bei starken Schmerzen oder Multipler Sklerose zu belegen. Die werden auch in Zukunft ausbleiben – da Cannabis, seit Jahrhunderten bekannt, nicht mehr patentierbar ist, lohnt der finanzielle Aufwand für die Hersteller nicht.
Und auch die Kassen sehen genau hin – wenn die Verordnung auf ihre Kosten geht. Das erfährt gerade auch Daniela Joachim. Die Patienten-Vertreterin ist derzeit selbst auf der Suche nach einer Ärztin oder einem Arzt, die ihr Cannabis zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verschreibt. Ein mühsames Unterfangen, wie sie feststellen musste: „Die Regressangst der Ärztinnen und Ärzte ist groß. Die Kassen beobachten genau, wer wie viele der teuren Blüten verordnet und verschicken eifrige Mahnschreiben, von den sich viele Mediziner beeindrucken lassen.“